von Pamela Behnke
In vielen Menschen gibt es diese undefinierbare Sehnsucht. Man kann sie gar nicht beschreiben oder in Worte fassen. Aus dieser (oft unbewussten) Sehnsucht heraus beginnen manche fieberhaft nach Geld, Gütern oder Macht zu streben – andere wiederum landen auf ihrer Suche nach dem, was eigentlich gemeint ist, in der Sucht nach Substanzen oder bestimmten Verhaltensweisen. In Wahrheit geht es aber um die Sehnsucht nach Nähe und Verbundenheit, um unser instinktives Bedürfnis nach Kontakt mit sich selbst
und den anderen, um Geborgenheit, ein Berührt-Werden und Zuhause-Sein im eigenen Körper.
Berührungs Sehnsucht
Jeder Mensch braucht Berührung. Sie ist ein essenzielles Grundbedürfnis und genauso wichtig wie Atmen, Nahrung und Wasser. Ohne Berührung sterben wir zwar nicht sofort und unmittelbar – aber wir verkümmern langsam, zuerst emotional, später auch körperlich.
Das spüren wir seit Menschengedenken, und wir wissen es mindestens seit jenem grauenhaften Experiment, das Kaiser Friedrich II (1194 -1250) durchführte: Er wollte herausfinden, welche Sprache Kinder entwickeln, wenn nie jemand mit ihnen spricht. Deshalb wurden mehrere Ammen angewiesen, seine Versuchsbabys zwar zu stillen und sie körperlich zu versorgen – sie durften aber unter keinen Umständen mit den Säuglingen sprechen und sie auch nie zärtlich berühren, halten oder herzen. Das Experiment ist misslungen – denn alle Kinder sind gestorben! Ohne die menschliche Wärme und Berührung, das Streicheln, das Kosen, das Hören zärtlicher Worte und Laute fehlte ihnen die gesamte Lebensbasis.
Dass Babys und Kinder ohne Zärtlichkeit und Körperkontakt psychisch krank werden, stellt heutzutage kein Mensch mehr in Frage. Und als ich meine eigenen Kinder (11 und 7) gestern danach fragte, ob und warum Berührungen für sie wichtig sind, antworteten sie mir: „Das ist doch logisch Mama: damit ich spüre, dass mich wer liebhat, … weil es mir nur zu sagen, reicht doch nicht… und damit man sich nicht alleine fühlt!“
An diesem elementaren Bedürfnis nach Körperkontakt ändert sich aber auch nichts, wenn wir erwachsen sind. Berührung ist von Klein auf bis ans Ende unseres Daseins lebenswichtig. Nur dadurch können wir uns mit uns selbst verbinden, die eigenen Grenzen wahrnehmen, die eigenen Gefühle und
Bedürfnisse spüren. Berührung ist Körper-sprachliche Kommunikation und befriedigt unsere tiefe Sehnsucht, geliebt und angenommen zu sein. Und unser Zu- und Umgang mit Berührung wird wesentlich von unseren Eltern geprägt…
Tabu Zonen
Die wachsenden Diskussionen um sexuellen Missbrauch sind zweifelsohne begrüßenswert. Sie haben aber auch zur Folge, dass immer mehr junge Eltern verunsichert sind, WIE und WO sie ihre Kinder denn nun berühren dürfen. Darf ich gemeinsam mit meinem Kind in die Badewanne steigen? Darf ich es einfach zulassen (oder gar genießen), wenn mein Kind sich frühmorgens wohlig an meinen (vielleicht sogar nackten) Körper unter die Bettdecke kuschelt? Viele ganz natürliche, menschliche und absichtslose Berührungen werden plötzlich ängstlich in Frage gestellt.
Dazu kommt noch ein anderes Phänomen: Vor mehreren Jahren gab es eine interessante Studie: Sie ergab, dass ein Großteil der Mütter beim Waschen oder Pflegen ihres Babys/Kleinkindes schlagartig verstummen, wenn sie den kindlichen Geschlechtsbereich berühren – ein eindeutiges Signal an das unterbewusste Kind, dass „da unten“ irgendwas anders ist, nicht stimmen kann!? Solche und andere unbewusste Prägungen werden meist über viele Generationen weitergegeben. Lauter körperliche und sexuelle Schamregeln, welche die Eltern ja wiederum von ihren Eltern zu Hause mitbekommen haben. Wen wundert’s also, dass es selbst heute in unserer aufgeklärten Zeit kaum Frauen oder Männer gibt, die im direkten Kontakt mit dem eigenen Körper keinerlei Probleme haben – ganz besonders, wenn es ums Thema Sexualität und Genitalien geht.
Körper Lust
Wie wir mit uns selbst umgehen, wird also bereits in der Herkunftsfamilie geprägt. Ein absichtsloses Berühren des ganzen Körpers, von Lingam und Yoni genauso wie der Nase oder der Ohren, vermittelt uns schon als Kind die Gewissheit, dass alle Körperregionen die gleiche Wertigkeit und Wichtigkeit haben und nichts ausgeschlossen wird. Jedes Kind lernt an realen Personen, was es heißt, menschlich, weiblich, männlich zu sein.
Die kindliche Lust und Freude am eigenen Körper und der offene spontane Umgang damit verunsichert manche Eltern – sie sollten aber bedenken, dass sich die kindliche Körperlust und Sexualität mit ihrer spielerischen Neugier, Doktorspielen, Selbsterforschung, Unbefangenheit nicht auf zukünftiges Handeln orientiert. Kinder wollen einfach ein lustvolles Erleben des Körpers mit allen Sinnen. Das hat rein gar nichts mit unserer erwachsenen Sexualität zu tun, die häufig beziehungsorientiert ist, sich meist auf genitale Sexualität fixiert und auf ein Ziel (Erregung und Befriedigung) ausrichtet ist.
Wer sich diese Unterschiede bewusst macht, kann erkennen, wie sehr unsere erwachsene Sicht der Dinge die natürlichen Bedürfnisse von Kindern behindern kann: Das Fühlen des
eigenen Körpers erleichtert das Verbalisieren aller körperbezogenen Themen – dadurch lernen sie wahrzunehmen, was sich der Körper wünscht und einen positiven und verantwortlichen Zugang zu Berührung und Sexualität.
Spürbar berührbar
Je älter wir werden, umso mehr verlieren wir diese kindliche Leichtigkeit. Dabei kommt doch auch kein Erwachsener ohne Berührung aus… oder doch? Fragt man einen der vielen „Neuzeit-Singles“ (egal ob Frau oder Mann), was ihnen am meisten fehlt, dann hört man sehr oft: „Das Kuscheln, Körperkontakt, Berührungen gehen mir eigentlich noch viel mehr ab, als der Sex…!“
Natürlich ist Sex im besten Fall eine Möglichkeit, neben dem Lustgewinn auch die syndiastische Dimension zu erfüllen – also das Bedürfnis nach Beziehung und Zugehörigkeit, nach sozialer Bindung, nach angenehmer Berührung und Nähe. Doch viele Menschen sind nicht in der Lage, hier differenzierter wahrzunehmen – und allzu oft geschieht heute Sex, wo im Grunde Nähe gemeint ist. Um die feinen Unterschiede zu verstehen oder zu fühlen, braucht es eine Bewusstmachung und das konkrete Erleben dieser Zusammenhänge zwischen unseren (beziehungsorientierten) Grundbedürfnissen und dem Bedarf an sexueller Erregung und Lustbefriedigung.
Haben wir diese vielschichtigen Dimensionen erkannt, dann können wir uns auch wieder berühren – und zwar ohne den Druck, dass gleich mehr daraus entstehen müsste.
Berührungs Angst
Wir leben in einer zunehmend berührungsarmen Gesellschaft. Körper- und Hautkontakte werden geflissentlich vermieden und Berührungsängste sind weit verbreitet – nur redet kaum jemand darüber, und nur wenige sind sich dessen bewusst. Denn Sehnsucht nach und Angst vor dem Berührtwerden liegen oft nahe beieinander.
Das kommt daher, weil alles, was uns äußerlich berührt, meist auch unser Inneres anrührt, unser Herz und unsere Seele. Eine Umarmung, ein Halten, ein absichtsloses Streicheln bewirkt oft viel mehr als schlaue Worte: es öffnet die Herzen, bringt die in den Muskeln und im Gewebe festgehaltenen Gefühle in Fluss, Präsenz in den Körper und in den Augenblick.
Plötzlich kann man sich selber spüren – und genau das steckt hinter unseren Berührungsängsten! Denn unter dem Deckmantel der „risikolosen Unberührbarkeit“ verbergen sich eben auch unangenehme Gefühle, alte Verletzungen, die eigene Bedürftigkeit oder die Lust an der Berührung, die sich der/die Eine oder Andere gar nicht eingestehen mag.
Gerade deshalb sollten wir es zulassen, diesen Schutzmantel zu lüften oder abzulegen. Wer eine lange Zeit (gewollt oder ungewollt) berührungslos verbracht hat und dann wieder viel
Berührung erlebt, wird am eigenen Leib feststellen, dass sich etwas verändert. Das Leben fühlt sich anders an, man wird wieder durchlässiger, geschmeidiger mit sich und der Welt.
Für viele ist es auch ein erster Schritt, sich nach schlechten Erfahrungen wieder zu öffnen und Hingabe zu lernen. Absichtslose Berührungen sind liebevolle Erfahrungsräume, in denen wir zu uns selbst finden und genießen können, ohne ein weiteres Ziel. Einfach Sein und Spüren!
Es soll also vordergründig um das Spüren an sich gehen. Aber natürlich gehört zu einer ganzheitlichen Körperlichkeit auch die Sexualität dazu – und auch jene Regionen, die viele Menschen immer noch mit „da unten“ benennen und die viel zu wenig taktile Beachtung bekommen… Und ganz rasch melden sich dann wieder Unsicherheit, Unwissenheit und Scham aus dem Unterbewusstsein und behindern die aufrichtige Liebe zum eigenen Wesen und zum eigenen Körper! Denn wie kann ich mögen, was ich noch gar nicht richtig kenne?
Selbst Liebe
„Von manchen Menschen mag ich aber gar nicht berührt werden!“, ist ein Satz, den ich auch sehr oft höre. Die meisten Leute glauben, dass dieses Unbehagen etwas mit der anderen Person zu tun hat und meiden oder beschuldigen jemanden im Außen. In gewisser Weise verständlich – denn wer will schon gerne von Menschen berührt werden, deren Berührung keinen Genuss bringt. Doch was, wenn wir entdecken, dass wir diese Ablehnung bei fast jedem Menschen empfinden?
Dann kann es an der Zeit sein, sich nach innen zu wenden und zu fragen, welche unangenehmen Aspekte in uns selbst berührt werden. Was braucht hier meine Aufmerksamkeit? Welche alten Erfahrungen werden da „berührt“? Zwischenmenschliche Berührungen bergen immer ein gewisses Risiko in sich, mit unvorhergesehenen Gefühlen konfrontiert zu werden.
Wenn wir lernen, uns selbst zu spüren, mit allem Positiven und Negativen, das uns ausmacht – wenn wir uns auch so sein lassen können und uns selbst mit Liebe und Achtung begegnen – dann können wir Nähe und Berührung viel öfter riskieren. Dann können wir auch mal damit experimentieren… in der Gewissheit, sich selbst versorgen zu können.
Wer anfängt, sich selbst zu geben, was er vom Gegenüber ersehnt, gewinnt innere Freiheit – und die fühlt sich sehr lebendig an.
Hin Gabe
Unser Körper ist der Tempel unserer Seele. Wenn wir lernen, uns Berührungen hinzugeben, dann entpanzern sich Körper und Geist. Als derart entspannter Empfänger wirst du offen für Lust und Sinnlichkeit, die sich immer mehr ausbreitet – du fühlst dich wohlig zuhause in deinem Körper, gesättigt, berührt und inspiriert. Nicht immer ausschließlich rosig, weil dadurch ALLE Gefühle in deinem Inneren lebendig werden. Aber alles Lesen kann nur eine Anregung sein, sich wieder öfter auf Berührung einzulassen.
Ich kann mich noch gut an mein eigenes Erstaunen erinnern, als ich anfing, mich bewusst mit Berührung , Nähe und Massage zu beschäftigen. Ich wusste gar nicht, dass ich so viel fühlen kann und welch innerer Reichtum in mir schlummert. Das Leben ist dadurch so lebendig geworden, ich bin lebendiger geworden. Zumindest im Moment ist das meine größte Lebens-Sehnsucht: Mich so gut zu spüren, und dadurch verbunden zu sein mit mir und der Welt. Da wird es still undgleichzeitig lebendig in mir.
Und wie steht’s bei dir mit dem Spüren?
DENKST du noch oder FÜHLST du schon…
Herzlich, Pamela Behnke
Pamela Behnke
Leiterin Zinnoberschule
https://www.zinnoberschule.de/
Fotos: Canva und privat
Wunderschön geschrieben und so so wahr..wie abgestumpft wir sind, oft auch unbewusst, merken wir erst, wenn wir mal wieder mit Berührungen in Verbindung kommen und die uns emotional so aus unserer Reserve holen, das wir hinterher gar nicht begreifen können, was da gerade passiert ist.
Meist hats dann geruckelt, eine Tür, die schon lange verschlossen war, ist aufgegangen. Wir können wieder fühlen. Wir können UNS wieder fühlen. Und wir könne uns auch wieder fallen lassen, können loslassen. Eine Berührung kann so viel in uns auslösen, aber andererseits auch viel zerstören.
Dennoch ist es unverzichtbar gegen Nähe anzukämpfen, denn wir brauchen sie, heute mehr denn je. Oder wie ist es zu erklären, dass wir bei der richtigen Berührung, bei der richtigen Massage, Shiatsu, Tantra oder was auch immer auf einmal anfangen zu weinen?
Aufgestaute Emotionen, Blockade, Mauern können einreißen und den Fluss des Lebens wieder in uns wecken!