Sexualkultur – ein Schlüssel für Gesundheit

von Gerhard Tiemeyer

„Schlüssel für Gesundheit“ sind diejenigen Verhaltensweisen, durch die Türen für mehr Lebensfreude geöffnet werden. Denn Lebensfreude ist nachweislich die größte Heilkraft, sie ist sehr gut fürs Beziehungsklima und stärkt den Mut und die Hoffnung auf menschlichere Zukunft.
Ich möchte ein paar Gedanken anbieten, warum unser sexueller Alltag ein besonderer Schlüssel für mehr Gesundheit ist.

Sexuelles Erleben bewirkt vierfache Lebensfreude

Einmal im körperlichen Genießen. Weiterhin durch die freudigen Beziehungen mit sich selbst und mit anderen. Als ein Drittes kommt Ekstase als besondere Erlebnisweise hinzu. Schließlich ist Sexualität eine wunderschöne Kunst der Balance zwischen Kontrolle und Hingabe.

Musik, Gesang, Tanz und andere Gruppenkünste teilen vieles mit sexuellem Erleben, allerdings dominiert hier das Sublimieren, das Verschieben offener Lust in Formen des Ausdrucks.

Die besondere Bedeutung gesundheitspraktischer Sexualkultur

Die besondere Bedeutung gesundheitspraktischer Sexualkultur entsteht durch den Missbrauch von Sexualität in unserer Kultur. Sie wird zunehmend zu einem Schlüssel für Schuldgefühle und viel Leid. Nicht so sehr im Sinne des Verbotes und damit der Verdrängung, sondern vielmehr durch Übersexualisierung:

Da ist zum einen die ‚alte‘ Körperlustfeindlichkeit, die keineswegs verschwunden ist. Sie mischt sich mit dem erotisierten Leistungsdruck.

Ein Kind muss heute lernen, sexuelle Lust nicht direkt zu leben und zu kontrollieren und muss später zugleich Lust sehr ‚erfolgreich‘ zeigen können. Damit verwoben sind die Belohnungssysteme der sozialen Anerkennung: Wenn Du sexuell so bist, wie verlangt, bekommst Du Anerkennung als Mann, als Frau, als Paar.

Starker Anpassungsdruck bedingt fast immer chronische Schuld- und Schamgefühle in zwei Richtungen: ‚Gehorcht‘ Mensch den Leitbildern, dann ‚verrät‘ Mensch das Menschliche, das Natürliche, die aus dem Inneren quellende Lebensfreude. Umgekehrt folgt Mensch eher sich selbst, droht die Gesellschaft mit Ausgrenzung: Du gehörst zu den Besonderen, Anderen, Fremden. Diese Androhung ist psychisch extrem wirksam, weil sie im Gedächtnis als Todesbedrohung erlebt wird. Da kann der Verstand noch so sehr dagegen halten – die Angst vor Ausgrenzung sitzt tief.

„Der Konflikt zwischen sexuellem Anpassungsdruck und der individuellen sexuellen Lebenslust ist für Gesundheitspraxis direkt oder indirekt das wichtigste Thema. „

Gerhard Tiemeyer

Jedes zu viel oder zu schnell an lustvoll freudigen Gefühlen und Körpererleben, kann den inneren Konflikt mit der Normwelt und Gewohnheiten fördern und, oft unbemerkt, Schutzreaktionen bewirken.

Wenn ‚Ich‘ mich mehr zu mir selbst bekenne, muss ich lernen, mit sozialen Ausgrenzungen umzugehen. Das ist nicht nur eine Frage realer sozialer Konflikte, sondern vor allem auch eine Fähigkeit, inneres multikulturelles Leben unter einem Körperdach zu leben.

Naheliegend ist oft, die Konflikte der Anpassung durch Schuldzuweisungen und Kampf zu ‚lösen‘. Die perverse Gesellschaft, Patriarchat und manches Andere bietet sich an. Zugleich werden dann Inseln von neuen sozialen Gemeinschaften, ‚Wir anderen‘ gebildet, mit mehr oder weniger verdeckter Überheblichkeit den anderen, die noch nicht so weit sind, gegenüber.

Gesundheitspraxis versucht diese beiden Fallen zu vermeiden und Lust- und Konfliktakzeptanz miteinander zu verbinden.

Sexualität und Spiritualität

Ein weiterer Aspekt ist die Beziehung zwischen sexuellem und spirituellem Erleben. Schon immer erlebten Menschen Sexualität auch als ‚Tor‘ oder ‚Weg‘ zur Begegnung mit etwas Göttlichem, Transzendentalem.

Hier mischen sich zwei menschliche Antriebe, die körperliche sexuelle Energie zur Lebensfreude mit dem menschlichen inneren Suchen nach ‚Sinn‘ oder nach dem, was jenseits des Körperlichen die Menschlichkeit bedingt. Diese Nähe von körperlicher Lust und spirituellem Erleben war und ist Grund für zölibatäre Lebensweisen und ihre Probleme in religiösen Institutionen.

Von besonderer Bedeutung ist dieser Aspekt heute, weil Spiritualität und spirituelles Sinnerleben das größte Defizit in kapitalistisch konsumorientierter Lebensweise ist.

Viele Gruppen in der Bewegung zur sexuellen Befreiung wurden und werden Gemeinschaften, in denen Sexualität ein Medium des eigentlich gesuchten spirituellen Erlebens wird.

Gesundheitspraktische Sexualkultur hat den Anspruch, alle Dimensionen der Schlüsselkraft sexuellen Erlebens kreativ und umsichtig zu fördern.

Da ist zunächst das individuelle lernen, Sexualität zu genießen, ohne hierbei in Scham- oder Schuldgefühle zu geraten. Körperliches Spüren und Fühlen ist immer wieder der wichtigste Pfad, der von Erwartungsmustern aller Art wegführt und wirkliches, wirkungsvolles Selbst-Spüren ermöglicht.

Da ist im Weiteren das Bewusstwerden und das Umgehen mit den inneren wie äußeren Konflikten. Gesundheitspraktische Sexualkultur ist eine der schönsten Formen, gewaltfreie, würdigende Kommunikation mit sich selbst, mit dem eigenen Körper zu lernen. Die sinnliche Erfahrung, sich selbst zu wertschätzen in allen Dimensionen des Erlebens – ist Friedenspolitik an der Basis.

Schließlich bietet gute Gesundheitspraxis an, die individuellen Wege und Formen spirituellen Erlebens anzuregen und zu begleiten. Die Schlüsselkraft der Sexualität kann hier zu einer tiefen Verwurzelung in einem transzendentalen Erleben beitragen. Sie kann es, muss aber nicht. Denn das Geheimnis guter Schlüssel ist, dass hinter den Türen, die sie öffnen, immer mehrere Wege und Lebenswelten warten.

Gerhard Tiemeyer

Geschäftsführer und Vorstand der DGAM,
Leiter der DGAM-Bildungsakademie

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