von Inari Hanel
„Gesundheit beginnt mit Genießen.“ Immer wieder begegnet mir das Motto der DGAM, auch und gerade in meinem Fachgebiet der weiblichen Sexualität.
Denn Genießen ist in erster Linie ein sinnliches – und somit ein körperliches Erleben. Und im Bereich von Lust und Sexualität spielt der Körper eine zentrale Rolle. In ihm kommen Körperwahrnehmung, Gefühle, Emotionen, Gedanken und Bilder zusammen und bilden ein mehr oder weniger authentisches Ganzes.
Auf dem Weg in eine Sexualkultur, die unserem heutigen Bewusstheits- und Wissensstand entspricht, ist aktuelles Wissen um Anatomie und Physiologie des Körpers eine wichtige Säule. Falsche Annahmen und überholte Vorstellungen können nun Platz machen für ein besseres Verstehen der körperlichen Vorgänge im sexuellen Erleben. Mein Schwerpunkt im gesundheitspraktischen Kontext ist die weibliche Sexualität. Deshalb werde ich mich in erster Linie auf den weiblichen Körper beziehen. Ich freue mich selbstverständlich, wenn auch Männer diesen Beitrag lesen. Eine neue Sexualkultur ist ja auch nur möglich, wenn Frauen und Männer neue Wege erforschen und miteinander in einen fruchtbaren Dialog kommen.
Klitoris: Wenn es um die körperlichen Aspekte weiblicher Lust geht, dann ist die Klitoris das zentrale Organ. Bis noch vor wenigen Jahren wurde die Klitoris lediglich als der sichtbare Teil – genannt Schaft und Perle definiert. In meinem Anatomiebüchern aus den 80er Jahren steht unter Klitoris: „ Kleines erektiles Organ, sitzt unterhalb des Zusammenstoßes der beiden kleinen Schamlippen.“ Doch die Klitoris ist viel größer als gemeinhin angenommen: In den 90er Jahren befasste sich eine australische Urologin, Dr. Helen O ´Connell, intensiver mit diesem Organ. Sie hatte gelernt, bei Prostataoperationen sehr genau auf den Erhalt der sexuellen Funktion zu achten und hatte immer wieder Sorge, dass sie bei Frauen Nerven zur Klitoris durchtrennen könnte. Da sie in ihren Lehrbüchern keine detaillierte Beschreibung der Klitoris und des sie versorgenden Nervensystems fand, begann sie zu forschen, indem sie weibliche Körper sezierte. Und sie machte die überraschende Entdeckung, dass die Klitoris viel größer ist als bis dahin angenommen: Sie reicht etwa 10 cm tief in den Körper hinein und ist mit zahlreichen Organen verbunden – der Harnröhre, Vagina, Damm und Anus, bis hinein ins kleine Becken. Und sie besteht aus erektilem Gewebe, das bei Erregung anschwillt, genau wie der Penis – nur eben nach innen gerichtet und verborgen. Auf der kleinen, sichtbaren Perle, der Klitoris-Eichel kommen ca. 8000 Nervenenden zusammen. Das ist sogar mehr als auf der Zunge. Sie ist das Kronjuwel der körperlichen Lust und gleichzeitig unberechenbar und anspruchsvoll wie eine Diva. Mal mag sie eine direkte Berührung, und dann wieder überhaupt nicht.
Warum ist nun diese Entdeckung von Dr. Helen O ´Connell so erstaunlich und sensationell? Zum Einen ist es wirklich sensationell, dass es bis in die letzten Jahre des ausgehenden 20. Jahrhunderts gedauert hat, die Klitoris in ihrem ganzen Ausmaß zu erforschen. Und zum Anderen ist die seit Sigmund Freud bestehende Diskussion, ob der klitorale oder der vaginale Orgasmus der richtigere ist, nicht mehr aktuell. Denn die Klitoris ist immer das maßgebliche Lustorgan der Frau. Ob nun bei der körperlichen Vereinigung die Lust von der Perle ausgeht, hängt eher von der anatomischen Beschaffenheit ab: Bei etwa 10-20% der Frauen liegen Perle und Schaft so nahe am Eingang der Vagina, so dass diese dann auch von den Bewegungen des Penis stimuliert werden. Die Mehrzahl der Frauen benötigt jedoch zusätzliche Berührung an der Perle, um in den Genuss der Empfindung der 8000 Nervenfasern zu kommen. Viele Frauen sind der Meinung, ihr sexuelles Erleben sei erst normal und in Ordnung, wenn sie bei der körperlichen Liebe ohne zusätzliche Stimulation einen Orgasmus erleben. Das ist ein Trugschluss, dem auch ich viele Jahre meines Frauseins aufgesessen bin. Ich kann mich noch an meine Erleichterung erinnern, als ich während meines Ausbildung in Frauenmassage erfahren durfte, dass ich zur Mehrzahl der Frauen gehöre, die einige Zentimeter Abstand zwischen Yoni-Eingang und Perle aufweisen, und dass ich damit ganz normal bin.
Der G-Punkt. Mythos oder Realität? Wenn es ihn gibt, wo liegt er genau? Und haben ihn alle Frauen? 1950 beschrieb ein deutscher Arzt, Dr. Ernst Gräfenberg einen Bereich in der vorderen, bauchseitigen Vaginalwand, der bei sexueller Stimulation anschwillt. Seither heißt diese Stelle G-Punkt. Genauer ausgedrückt sollte es G-Zone heißen, denn es handelt sich hier um das Zusammentreffen des erektilen Klitorisgewebes mit dem paraurethralen Drüsengewebe ( weibliche Prostata oder Skene-Drüse) mit einer Fläche etwa von der Größe einer Euromünze. Diese Stelle lässt sich leicht ertasten: sie liegt ungefähr 1-5cm vom Yoni-Eingang entfernt in Richtung Bauchdecke. Sie fühlt sich etwas knotig, geriffelt oder gefurcht an, fast so wie eine Walnuss. Das übrige Gewebe der Scheide ist ganz glatt. Der G(öttinnen)-Punkt liebt es, wenn er mit unterschiedlichem Druck gestupft oder gehalten wird. Wenn die Berührung für ihn angenehm oder lustvoll ist, vergrößert sich das Gewebe, die Furchen quellen auf wie bei einem Schwamm, der sich voll Wasser saugt. Dieser Schwamm ist durch etwa 30 kleine Kanäle mit der Harnröhre verbunden, in die die Flüssigkeit entweder nach hinten in die Blase läuft oder als Ejakulation nach außen durch die Harnröhre abgegeben wird. In der Yoni-Massage wird dem G-Punkt besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn es ist der Bereich in der Yoni, in dem besonders viele Körpererinnerungen, Gefühle und Emotionen gespeichert sind. Es lohnt sich ihn zu erforschen, seine Geheimnisse und Schätze aufzuspüren und zu erleben, wie sich Stellen von anfänglicher Anspannung oder Taubheit verändern in Bereiche von ursprünglicher Lust und Sensibilität. Frau kann diese G-Zone ebenfalls erkunden, entweder allein oder mit dem Partner. Es braucht dazu etwas Geduld, Neugier und Forscherdrang.
Weibliche Ejakulation . Auch Frauen ejakulieren. Und sie ejakulieren ebenfalls durch die Harnröhre. Da wir Frauen in unserem Kulturraum den Umgang mit der weiblichen Ejakulation nicht gelernt haben, halten wir den Schließmuskel der Harnröhre ganz fest verschlossen statt zu entspannen. Das Ejakulat läuft dann nach hinten in die Blase, und die Frauen bekommen von diesem Vorgang gar nichts mit. Sie wundern sich vielleicht, warum nach der Vereinigung die Blase so voll ist.
Es handelt sich bei der weiblichen Ejakulation nicht um Urin, sondern um eine Flüssigkeit mit ganz speziellen Eigenschaften: der pH-Wert ist höher als im Urin, es riecht sehr angenehm, und es lässt sich auch bei der Frau PSA (prostataspezifisches Antigen) nachweisen. Die Tatsache, dass auch Frauen durch die Harnröhre ejakulieren, ist in den alten Kulturen Asiens Bestandteil der Sexualkultur. In Indien wird das weibliche Ejakulat „Amrita – Nektar der Götter“ genannt. Bei uns war die weibliche Ejakulation bis ins Mittelalter hinein bekannt. Danach ist sie in den Dornröschenschlaf der Vergessenheit geraten und erlebt gerade in den letzten 30 Jahren ein Wiedererwachen über Fachliteratur, Filme und Erlebnisberichte. Möglicherweise wird frau sich an dieser Stelle fragen: „ Was bringt es mir, wenn ich ejakuliere?“ Dazu möchte ich aus eigener, ganz subjektiver Erfahrung antworten: Es ist ein zutiefst wohliges und befriedigendes Gefühl, das Wasser der Lust fließen zu lassen. Ganz anders als ein Orgasmus. Ich fühle mich ganz in meiner Tiefe mit meiner weiblichen Kraft verbunden und mit vitaler Lebensenergie genährt.
Wellen weiblicher Lust: Viele Frauen, haben ganz genaue Vorstellungen, wie ihr Orgasmus sein sollte und orientieren sich dabei an der Orgasmuskurve des Mannes: ein stetiger Anstieg bis zum Höhepunkt und danach ein relativ rascher Abfall der Erregung hinein in die Entspannung. So wird die Erregungskurve in Fachbüchern dargestellt und beschrieben. Doch die Wellen weiblicher Lust halten sich nicht an dieses Schema. Körperlust und Körperekstase sind mehr als das Hinarbeiten auf einen Orgasmus. Mit etwas Training und Erfahrung mit wenigen einfachen Atemtechniken ist es möglich, auf den Wellen der Lust zu surfen. Von Welle zu Welle. Und das Tal dazwischen als kleine Pause und nicht als Schlusspunkt zu nehmen. Die Wellen können in unterschiedlicher Höhe folgen und dann vielleicht in einem oder mehreren Orgasmen zu enden – oder auch nicht. Vielleicht erfolgt die Entladung über die Stimme, oder durch den Ausdruck einer Emotion.
Ich schreibe hier ganz absichtlich „Training“, denn das Fließen mit der sexuellen Lust ist nicht ein naturgegebenes Können. Der Umgang mit den Impulsen und Reaktionen des Körpers will gelernt und geübt werden wie Fahrrad fahren oder Klavier spielen. Lusttraining als somatisches Lernen, denn der Körper lernt in erster Linie über viele Wiederholungen. Die wichtigste und wirksamste Methode für das Lusttraining ist die sexuelle Selbstliebe. Auf diese Weise lässt sich der eigene Körper am intensivsten erfahren, und so können neue und bisher ungewohnte Atem- und Bewegungsmuster eingeübt werden, z.B. der taoistische Kreisatem oder der von den nordamerikanischen Indianern übernommene Feueratem. Das gilt für Frauen und Männer. Der bewusste Atem als Blasebalg, um aus der Glut der Lust ein Feuer der Körperekstase zu entfachen. Und hier noch eine Übung, um mehr Sexualenergie, und damit mehr Lebensenergie für sich zu generieren: Stimuliere Dich selbst, bis kurz vor dem Orgasmus. Dann halte an und entspanne Dich wieder. Das machst Du so etwa 3mal, später auch noch öfter. Und wenn Du beim vierten Mal den Orgasmus kommen lässt, wird er um einiges intensiver sein, als Du es gewohnt bist.
Bei dieser Art von Lusttraining übernimmt die Frau Selbstverantwortung für die Intensität ihrer Lust und erwartet nicht vom Mann, dass er dafür zuständig ist. Der Mann ist für seine Lust verantwortlich. In dieser Haltung können beide aus ihrer eigenen Fülle heraus die sinnlichen Freuden körperlicher Liebe gemeinsam genießen und teilen.
Soviel zum Thema „Körperwissen und weibliche Sexualität“. Mein Wunsch und meine Absicht sind, dass dieses Wissen neugierig macht auf den eigenen Körper: Dass frau sich den Handspiegel holt und ausführlich ihre Vulva betrachtet und berührt, dass sie vielleicht ihren G-Punkt ertastet und sich vielleicht sogar ein Spekulum besorgt, um diesen Bereich mit eigenen Augen zu sehen. So dass Körperwissen und Körpererfahrung ineinander fließen.
In der nächsten Folge über weibliche Sexualität möchte ich darüber informieren, welche Unterstützung und Anregung wir uns aus anderen Sexualkulturen holen können. Dabei werde ich auch die Yonimassage – eine spezielle Form der Frauenmassage –vorstellen. Wozu sie dienen kann, und wie sie wirken kann.
Kommentare und Fragen zu diesem Beitrag hier sind willkommen. Ich antworte gerne.
Herzlichst, Inari
Inari Hanel
DGAM Dozentin für Sexualkultur und Gesundheitspraktikerin, DGAM Ausbildungsdozentin; Leiterin Praxisfeld Sexualkultur
www.inari-sexualkultur.de
Literatur zum Thema:
Deborah Sundahl „Weibliche Ejakulation und der G-Punkt“
Betty Dodson : „Sex for One – Die Lust am eigenen Körper“
DVD: „Klitoris – Die schöne Unbekannte“ Eine Arte-Dokumentation