Vagina-Dialoge im Mittelalter: Eine Vulva auf Reisen

von Lea Söhner

Eine mittelalterliche Geschichte über die Reise einer Vulva, die sich von ihrer Besitzerin wegen Missachtung trennt – mit überraschend feministischen Zügen.
Es handele sich um eine wahre Begebenheit, schreibt der mittelalterliche Erzähler um das Jahr 1300. Das Ganze will er selbst erlebt und selbst gehört haben …

Dieser männliche Dichter hat mitbekommen, wie sich eine Jungfrau (junkfrouwe) mit ihrer Vulva verstritten und am Ende zum Glück wieder versöhnt hat.

Und das ging so:

Da lebt eine keusche und religiöse Jungfrau in ihrem Rosengarten, hatte noch nie Sex und wird plötzlich von ihrer Vulva angesprochen.

Dieser Vulva, im Text Fud genannt, war ein Wurz gereicht worden und sie fängt daraufhin an zu sprechen. Wurz bedeutet nicht nur Wurzel, es kann irgendeine Pflanze oder ein Kraut sein.

Und was hat die Vulva (Fud) nun auf dem Herzen, als sie plötzlich zu sprechen beginnt?

Sie beschwert sich bei der Jungfrau!

Die Fud ist genervt, dass die Frau sie zu wenig achtet!

Diese gebe viel zu viel auf ihr Aussehen, wo es doch eigentlich sie, die Fud sei, derentwegen die Männer sie begehren.

Die junge Frau ist äußerst empört.

Sie, als Jungfrau, sei schmuck, keusch und wunderschön und dies allein sei der Grund, warum die Männer ihr hinterherjagen. Aber doch nicht wegen der Fud!

Als Schande beschimpft sie ihre Vulva.

Nun, wer will schon gerne als Schande bezeichnet werden!

Die Fud verteidigt sich und der Konflikt eskaliert. Letztlich zanken sich die beiden über die Frage, wer von ihnen nun von den Männern bevorzugt wird.

Man trennt sich im Streit voneinander.

Die Jungfrau ist bekanntermaßen hübsch und alsbald kommt ein Verehrer daher. Dieser beschimpft die Frau dann aber als „fudlose Frau“.

Die Fud ihrerseits, die ja nun alleine weiterleben muss, macht sich auf Achse. Leider wird sie auf ihrem Weg öfter mit einer Kröte verwechselt und ständig von Männern getreten und misshandelt.

Wer will schon so ein Leben führen! Die Fud kehrt also zu ihrer Besitzerin heim.

Gerne nimmt die Junkfrowe sie zurück, denn sie hat ihrerseits Erfahrungen gemacht und weiß, dass sie ohne Fud nur eine halbe Frau ist. Sie will die Vulva wieder in ihrem Schoß aufnehmen. Doch wie soll das nun gehen?

An dieser Stelle kommt der Dichter ins Spiel. Die Frau wendet sich an ihn und bittet ihn, ihre Fud wieder einzusetzen, anzudengeln, anzunageln (!)

Die Junkfrowe bittet den Dichter zudem, in der Männerwelt publik zu machen, dass sie jetzt nicht mehr fudlos sei.

Von wann und woher stammt dieser Text?

Man kennt einen Rosendorn-Text bereits, der wurde schon zuvor gefunden, allerdings wenig beachtet. Diese früheren Funde der gleichen Geschichte wurden dem fünfzehnten Jahrhundert zugeordnet.

Nun hat eine Forscherin 2019 dieses Fragment entdeckt, das bereits 200 Jahre früher aufgeschrieben worden war, also um das Jahr 1300.

Dort passt es nach seitherigem Wissen nicht hinein.

Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert befinden wir uns in der höfischen Kultur und ein solch unverblümter, obszöner Sex passt nicht in den Minne-Kodex.

In der Hohen Minne war der explizite Sex nicht vorgesehen.

Doch auch in der Niederen Minne, wurde nicht so schamlos offen über Sex gesprochen, es war eher verblümt.

Dieser Fund ist nun bedeutend genug, dass die Mediävistik (Mittelalterforschung) das Bild der Sexualkultur des Mittalters korrigieren musste.

Das „Rosendorn“- Fragment von 2019 wurde ausgerechnet in einer Klosterbibliothek gefunden, nämlich in der niederösterreichischen Stiftsbibliothek Melk.

Es bildete den Buchrücken eines anderen Buches.

Pergament war teuer und wurde nicht weggeworfen. Oft hat man Abfallstücke genommen, um andere Bücher zu binden.

Oder sollte dieses anstößige Fragment auf diese Art versteckt werden?

Das lässt sich nicht beantworten.

Der Text wird wohl in die Literaturgattung „Schwank“ eingeordnet.

Die Symbolik des Textes

Außer den historischen interessieren mich an der Geschichte viele andere Fragen. 

Wie Märchen könnte sie symbolische Bedeutung haben, auch tiefenpsychologisch ließe sich viel ausdeuten:

Welche Symbolik repräsentiert zum Beispiel der Rosengarten, in dem die Jungfrau lebt?

Hat die Fud eine eigene Seele, ist sie eine eigene Wesenheit, die streiten und sich beschweren kann und hat sie diese Seele nicht gehabt, bevor man ihr die Wurz verabreicht hat?

Was für ein Kraut (Wurz) hat die Jungfrau der Fud in den Mund gesteckt?

Oder ist es symbolisch Selbstbefriedigung? Der Fud wird etwas (Wurz) in den Mund gesteckt? Eine junge Frau erlebt: Da ist doch noch was. Damit wird die Vulva zum ersten Mal als etwas eigenes wahrgenommen, beseelt und gleich danach abgelehnt.

Interessant auch die allein reisende Vulva, die von den Männern getreten wird, weil man sie mit einer Kröte verwechselt:

Spielt diese Symbolik auf eine männliche Grundangst an?

Oder auf die Prostitution? Dort, wo sich die Frau reduziert auf die Fud, also auf ein Sexualobjekt, wird sie misshandelt.

Wo stehen wir 700 Jahre später?

Ich persönlich finde den Text zeitlos und tiefgründig.

Für mich geht es um Ganzwerdung der Frau: Die Integration der Vulva.

Wo stehen wir auf diesem Gebiet 700 Jahre später, nach Aufklärung, nach sexueller Revolution, nach Feminismus und Befreiung der weiblichen Sexualität? Und nach dem Theaterstück „Vagina-Monologe“ der neunziger Jahre?

Wie intim sind wir mit unserer eigenen Fud verbunden?

Wie achtsam oder wie wütend unterhalten wir uns mit ihr? Oder lassen wir sie noch immer links liegen und beachten sie nicht?

Oder wissen wir nicht einmal, wie sie aussieht, weil unsere Vulva noch nie in den Spiegel schauen durfte?

Gibt es nicht Momente im Leben einer Frau, wo sie ihre Fud auf Reisen geschickt hat? Oder dies zumindest gerne getan hätte?

Oder umgekehrt: die Frau hat von ihrer Fud mehr gefordert als die geben wollte, hat sich sexuellem Leistungsdruck ausgesetzt.

Es ging schon im Mittelalter und Achtung oder Missachtung.

Ich freue mich über Kommentare und weitere Interpretationen zu diesem mittelalterlichen Zeugnis.

Herzlich, Ihre Lea Söhner

Autorin:

Lea Söhner, Buchautorin
Internet: https://lea-soehner.ch/

Quellen:
https://kurier.at/kultur/sex-gedicht-zeigt-wie-ueberraschend-freizuegig-das-mittelalter-war/400559987#
https://www.oeaw.ac.at/detail/news/freizuegiges-gedicht-aus-dem-mittelalter/
https://www.handschriftencensus.de/26081
https://www.oeaw.ac.at/imafo/das-institut/detail/bisher-aelteste-ueberlieferung-des-rosendorn-in-der-stiftsbibliothek-melk-entdeckt


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